DIW-Vorstand Prof. Marcel Fratzscher
Zur Überwindung der europäischen Krise schlägt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) eine umfangreiche Investitionsagenda vor. Kernbestandteile dieser Agenda sollen ein zeitlich begrenzter Investitionsfonds insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, eine verbesserte Wettbewerbspolitik, eine investitionsfreundliche Steuerpolitik sowie eine Förderung grenzüberschreitender Joint Ventures sein. „Strukturreformen allein werden den Teufelskreis aus Banken-, Schulden-, Vertrauens- und Wachstumskrise nicht durchbrechen können“, urteilt ein Team von Wissenschaftlern um DIW-Präsident Marcel Fratzscher. „Europa hat ein Wachstumsproblem, das nur mit Investitionen zu überwinden ist. Dabei benötigen wir aber nicht mehr staatliche Eingriffe, sondern deutlich mehr Wachstumsimpulse aus der Privatwirtschaft, mehr Markt, mehr Innovation und mehr Wettbewerb“, so die DIW-Wissenschaftler.
In einer mehrteiligen Studie haben die Wirtschaftsforscher die Höhe und Entwicklung der Investitionen in den einzelnen Ländern der EU und des Euroraumes vor und während der Krise analysiert und mit geschätzten Niveaus verglichen, die den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen angemessen wären. Das Ergebnis: In einigen Staaten der Europäischen Union waren die Investitionen bereits vor Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 zu gering, während sie in anderen zu hoch waren. Seit Ausbruch der Krise hat sich die Lage dramatisch verschärft: EU-weit sind die Bruttoanlageinvestitionen um rund 14 Prozent, im Euroraum sogar um etwa 15 Prozent eingebrochen. Im Vergleich zu einem langfristig angemessenen Investitionsniveau fehlen im Euroraum derzeit Investitionen in Höhe von etwa zwei Prozent des BIP. Ein besonderer Schwachpunkt sei der Industriesektor: „Auch die Industrie, die bei der Wiedererstarkung Europas eine Schlüsselrolle spielen soll, ist von der Investitionsschwäche betroffen“, so die Forscher.
Für die Studie hat ein insgesamt elfköpfiges Team von DIW-Wissenschaftlern die Höhe der Investitionen sowohl anhand von Jahresdaten zur Verwendung des Sozialprodukts als auch mittels Werten zum Bruttoanlagevermögen, dem sogenannten Kapitalstock, analysiert. Während erstere eine Betrachtung bis an den aktuellen Rand ermöglichen, lassen letztere eine nach Branchen segmentierte Analyse zu. „Die Investitionszurückhaltung ist kein Phänomen einzelner Länder. Sie hat sich mittlerweile in nahezu allen Staaten der EU festgesetzt und bedroht so das Wachstum kommender Jahre“, so das Fazit. Bezogen auf den Kapitalstock hat Europa im Vergleich zu vielen anderen OECD-Staaten bereits vor der Krise wesentlich weniger investiert, zeigt eine Teilstudie von Martin Gornig und Alexander Schiersch. So wurden zwischen 1999 und 2007 bezogen auf den Kapitalstock insgesamt rund sechs Billionen Euro weniger investiert als in nichteuropäischen OECD-Ländern, zu denen etwa die USA, Kanada und Japan gehören. Im Euroraum waren es sogar mehr als 7,5 Billionen Euro weniger. Dadurch ist das Bruttoanlagevermögen, das unter anderem aus Produktionsanlagen, Ausrüstung und Bauten besteht, deutlich weniger modern als im EU-Durchschnitt. Und es wächst in fast allen Sektoren auch langsamer. Dies gilt vor allem für die Bereiche Gesundheit und Bildung sowie den Industriesektor. „Um die Investitionsschwäche zu überwinden, wird es daher nicht ausreichen, in den südeuropäischen Ländern einzelne Investitionsprogramme zu implementieren“, so die DIW-Forscher.
Seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich das Problem weiter verschärft, zeigt eine Analyse von Guido Baldi, Ferdinand Fichtner, Claus Michelsen und Malte Rieth auf Grundlage der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Die Investitionsquote ist im Euroraum seit 2008 um fast vier Prozentpunkte gesunken, während sie in den USA schon wieder deutlich anzieht. In einigen EU-Ländern, insbesondere in Deutschland, den Niederlanden und Finnland, waren die Investitionen seit vielen Jahren niedrig. Die Forscher bestimmten an Hand ökonometrischer Schätzungen für jedes Land „optimale“ Investitionsquoten und verglichen sie mit den tatsächlichen Quoten. Seit Beginn der Schuldenkrise im Euroraum, im Zeitraum 2010 bis 2012, liegt die tatsächliche Investitionsquote im Euroraum etwa zwei Prozentpunkte unter der Modellschätzung. Die Schätzung zeigt auch, dass vor der Krise vor allem in Italien, Portugal, Irland, Spanien und Griechenland besonders im Wohnungsbau zeitweise mehr investiert wurde, als angemessen gewesen wäre. Mit dem Zusammenbruch des Bausektors sind die Investitionen aber auch hier deutlich unter das optimale Niveau gesunken.
Den Grund sehen die Wissenschaftler in dem Teufelskreis aus sich gegenseitig verstärkenden Krisen: der Wirtschafts-, der Banken-, der Schulden- und der Vertrauenskrise. „Sie verhindern, dass sich die bereits eingeleiteten Reformen auf nationaler und europäischer Ebene positiv auf die Wirtschaft auswirken“, urteilen die Experten und warnen vor einer Stagnation. Trotz der expansiven Geldpolitik der EZB werden die Banken nicht ausreichend neue Kredite vergeben, wenn die Wirtschaft schwach und der Bestand an faulen Krediten hoch ist. Die Regierungen hingegen müssen ihre fiskalische Konsolidierung weiter fortsetzen, um nicht weiter an Glaubwürdigkeit zu verlieren und ihre Zusagen einzuhalten. „In dieser Situation fehlt es an wirtschaftlicher Dynamik, um den Teufelskreis zu durchbrechen“, so die DIW-Experten. Ein Grund für eine Aufweichung des Stabilitätspaktes sei dies jedoch nicht. Stattdessen sollte Europa versuchen, die privatwirtschaftlichen Investitionen mittels einer umfangreichen Agenda anzukurbeln. „Das Geld ist da. Der Euroraum als Ganzes hat mittlerweile eine jährliche Nettoersparnis von mehr als 250 Milliarden Euro, die Nettoersparnis von Unternehmen und Haushalten liegt sogar noch um einiges höher. Jetzt geht es darum, diese finanziellen Ressourcen zu mobilisieren und zu solchen Unternehmen zu bringen, die sie produktiv nutzen können.“
Die von den Forschern vorgeschlagene Agenda soll dazu unter anderem die Wettbewerbsintensität besonders in stark regulierten Sektoren wie Bildung und Gesundheit fördern sowie investitionsfreundlichere Steuerbedingungen schaffen. Das dritte Kernelement könnte ein etwa bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) angesiedelter Fonds sein. Er sollte insbesondere kleine und mittlere Unternehmen fördern, um die hohe Unsicherheit zu reduzieren und einzelwirtschaftliche Risiken zu minimieren. Es gibt bereits heute einen Europäischen Investitionsfonds bei der EIB, der allerdings mit moderaten Finanzvolumina lediglich als Risikokapitalgeber fungiert. „Durch Garantien der Mitgliedstaaten könnte sich der Fonds günstig refinanzieren und die attraktiven Konditionen an die Unternehmen weitergeben. Das würde nicht nur das Kreditangebot, sondern auch die Kreditnachfrage gerade in den Krisenländern verbessern.“ Dieser Fonds sollte nach Vorstellung der DIW-Forscher weder mit zu engen regionalen noch sektoralen Vorgaben arbeiten. „Entscheidend ist das Anstoßen produktiver Investitionen, egal in welchem EU-Land.“ Wichtig sei, die Investitionen in Bereiche zu lenken, die gute Wachstumschancen bieten. Ein Schwerpunkt könnte auf Investitionen im Energiesektor liegen. Hier sind einer Studie der DIW-Energieexperten Christian von Hirschhausen, Franziska Holz, Clemens Gerbaulet und Casimir Lorenz zufolge in den kommenden Jahren jährliche Investitionen in Höhe von 150 Milliarden Euro notwendig.
DIW Wochenbericht, Meldung, 02.07.2014, Bild DIW (Marcel Fratzscher)