Deutschland tut nicht nur den Flüchtlingen etwas Gutes, wenn es sie aufnimmt. Es tut vor allem sich selbst etwas Gutes.
Die Sorgen sind groß: täglich strömen Tausende Flüchtlinge ins Land, in den Städten kaum mehr Turnhallen, die nicht zu Notunterkünften umfunktioniert wären und in den einigen Dörfern ebenso viele Einheimische wie Flüchtlinge. Von rechter Seite werden Rufe nach einer Begrenzung des Zustroms laut. Angesichts der plötzlich hautnahen Konfrontation mit den Ausländern werden Zukunftsängste wach und werfen die Frage auf: Kann Deutschland sich es leisten, so viele Flüchtlinge aufzunehmen? Marcel Fratzscher beantwortet diese Frage gegenüber “Die Welt” eindeutig mit: “Ja!” Ja, die Integration wird viele Jahre dauern und ja, sie wird teuer werden, aber ja, wir können diese Investition stemmen und werden in nicht allzu weiter Ferne sogar daraus Gewinn ziehen. Wenn es einer wissen sollte, dann er. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), eines der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute und think tanks in Europa, und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität Berlin.
Flüchtlinge als Wirtschaftsmotor
Die Dabatte wird laut Fratzscher zu einseitig geführt. Die derzeitige Flut an Flüchtlingen schiebt wichtige Reformen, gerade im Bildungsbereich und in der Infrastruktur, an, die schon viel zu lange vernachlässigt worden sind. Die Flüchtlinge brauchen erst einmal sehr viel Hilfe. Noch nach 5 Jahren ist noch die Hälfte der anerkannten Flüchtlinge arbeitslos und die, die Arbeit haben, sind ein Drittel weniger produktiv als ihre deutschen Kollegen. Trotzdem helfen sie die Produktivität und die Erträge der Unternehmen zu erhöhen, was wiederum auch den einheimischen Kollegen zugute kommt. Nach etwa fünf bis sieben Jahren erwirtschaftet ein Flüchtling bereits mehr, als er den Staat kostet. Die Bertelsmann Stiftung hat ermittelt, dass Menschen ohne deutschen Pass 2014 im Schnitt 3.300 Euro mehr an Steuern zahlten, als sie in Form von Kindergeld oder sonstigen staatlichen Unterstützungen bekamen. Einwanderer entlasten also den Sozialstaat sogar. Wenn jedes Jahr 200.000 Einwanderer ins Land kämen, müsste jeder Deutsche jährlich 400 Euro weniger Steuern zahlen.
Kampf um Arbeitsplätze
Derzeit werden in Deutschland 600 000 offene Arbeitsstellen ausgeschrieben. Die Arbeitslosenquote von 6 Prozent liegt so tief, wie schon seit beinahe 24 Jahren nicht mehr. Viele der Arbeitslosen sind Langzeit-Arbeitslose und haben eine ähnliches Problem, wie die Flüchtlinge: Sie brauchen Ausbildungen, Fortbildungen, Weiterbildungen. Das schürt Angst. “Es ist völlig falsch, dass Flüchtlinge Deutschen Jobs wegnehmen. Zum einen, weil es genügend Jobs gibt. Und wie soll ein Flüchtling, der wenig Deutsch spricht, einem Deutschen den Job wegnehmen?”, meint Fratzscher dazu.
Um die nötigen Hilfen und die Bildung zu gewährleisten werden jetzt alle Register gezogen: Lehrer im Ruhestand werden angefragt um Deutschkurse zu geben. Sozialarbeiter werden händeringend gesucht um die teils traumatisierten Menschen aufzufangen. Jeder, der im Geringsten geeignet erscheint, bei der sozialen, logistischen und organisatorischen Bewältigung des Ansturms zu helfen, findet eine Anstellung. Kurse, die den Helfern die nötige Weiterbildung dazu vermitteln, sind auf Monate ausgebucht. Firmen, die Feldbetten oder Wohncontainer herstellen, können gar nicht so schnell produzieren, wie sie verkaufen und Caterer, die Flüchtlingsheime versorgen sollen, haben emsige Zeiten. Kurz gesagt, die Flüchtlinge schaffen Arbeitsplätze und kurbeln die Wirtschaft an.
„Die zocken doch nur eine Ausbildung ab und sind wieder weg“
In die Schulbildung deutscher Kinder investiert der Staat bis zum vollendeten Schul- oder Studienabschluss im Schnitt 6300 Euro pro Jahr, eine Mindestschulbesuch von 9 Jahren ist Pflicht. Zwei Drittel der Flüchtlinge ist jünger als 25 Jahre. 2014 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in einer nicht-repräsentativen Befragung die Bildung von Asylbewerbern untersucht. Dabei kam heraus, dass 15 Prozent von ihnen eine Hochschule besucht haben, weitere 16 Prozent ein Gymnasium. Das zeigt: Viele von ihnen könnten hier studieren – und damit in Zukunft zu den Fachkräften werden, die Deutschland so dringend braucht. Ganz nebenbei füllen diese jungen Neubürger die Lücken des demografischen Wandels auf – eine dringend benötigte Frischzellenkur für das deutsche Renten- und Versorgungssystem. “Ohne Zuwanderung wird in Deutschland das Erwerbspersonenpotenzial, also die Menschen, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen, bis 2050 um 35 Prozent zurückgehen. Das sind gut 15 Millionen potenzielle Arbeitskräfte weniger,” stellt Migrationsforscher Herbert Brücker im Interview mit der Frankfurter Rundschau klar.
Während ein Teil der Flüchtlinge als deutsche Staatsbürger hier bleiben möchte, wollen viele der Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Aber es zeigt sich, dass viele von ihnen erst einmal einige Jahre in Deutschland arbeiten, bevor sie in ihre wieder befriedete Heimat zurücksiedeln. Dort leisten sie mit ihrem hier erworbenen Wissen und ihren Fähigeiten Aufbauarbeit. Diese trägt wiederum zur Stabilisierung des Landes bei – ein wertvoller Dienst, der uns nichts kostet und uns einen potenziellen zukünftigen Handelspartner beschert. Nicht zuletzt sorgt die stabilisierte Wirtschaft für Frieden in den ehemaligen Kriegsgebieten und trägt damit zur Eindämmung der Flüchtlingsströme bei.
Die Antwort auf die Frage: “Können wir uns Flüchtlinge leisten?”, ist also: Wir können es uns gar nicht leisten, keine Flüchtlinge aufzunehmen. Haben wir die Nahostkonflikte bisher aus der Sicherheit des bequemen Fernsehsessels heraus beobachtet, so ist es jetzt Zeit, Taten folgen zu lassen. Die “Investition” in Flüchtlinge ist auch eine Investition in unser eigenes zukünftiges Wohlergehen. Ob das Projekt Erfolg hat, liegt buchstäblich an jedem Einzelnen. Daran werden wir uns messen lassen müssen.