Weniger als 50 US-Dollar je Barrel: So billig war Rohöl seit mehr als fünf Jahren nicht mehr. Dr. Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege für Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank, benennt die Gewinner und Verlierer aus Anlegersicht.
Herr Dr. Stephan, seit Sommer 2014 befindet sich der Ölpreis im Sinkflug. Kann das so weitergehen?
Stephan: Kurzfristig könnte der Preis noch etwas fallen, mittelfristig sollte wieder ein leichtes Plus drin sein: Ich rechne für die Ölsorte Brent mit einem Preis von rund 57 US-Dollar je Barrel zum Jahresende. Verglichen mit dem Niveau der vergangenen fünf Jahre wäre das immer noch sehr preiswert.
Was sind die Gründe für den Preisrückgang?
Stephan: Die Preisentwicklung geht vor allem auf das höhere Angebot zurück. Russland und der Irak fördern Rekordmengen, und die Vereinigung der erdölexportierenden Länder OPEC hat sich dagegen entschieden, die Förderquoten zu kürzen. Außerdem sind die USA dank neuer Fördermethoden inzwischen der größte Erdölproduzent der Welt und immer weniger abhängig von Ölimporten. Hinzu kommt eine gewisse Verunsicherung einiger Marktteilnehmer, was die Wachstumsaussichten der Schwellenländer anbelangt.
Für die Verbraucher sind sinkende Kosten für Benzin und Heizöl ein Segen. Wie sieht es bei den Anlegern aus?
Stephan: Die müssen genauer hinsehen, denn es gibt in dieser Situation Gewinner und Verlierer. Auf regionaler Ebene trifft es diejenigen Förderländer besonders hart, die auf einen hohen Ölpreis angewiesen sind, um nicht in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Laut der Rating-Agentur Fitch benötigt zum Beispiel Venezuela einen Preis von 118 US-Dollar je Barrel Öl für einen ausgeglichenen Haushalt – davon sind wir weit entfernt. Schrumpfende Devisenreserven und Bonitätsprobleme sind die Folge. Auch Russland und Brasilien zählen zu den Verlierern.
… und die Gewinner?
Stephan: Sind die sogenannten Netto-Rohölimporteure, also alle Länder, die mehr Öl verbrauchen, als sie fördern. Für sie wirken niedrige Ölpreise wie milliardenschwere Konjunkturpakete, denn den Firmen und Verbrauchern bleibt mehr Geld, das sie anderswo ausgeben können. Das gilt für Deutschland und die anderen Euroländer, aber auch für die großen asiatischen Volkswirtschaften Japan und China. Schwellenländer wie Indien und Indonesien, die Energie subventionieren, können die gesparten Mittel zum Beispiel einsetzen, um die Inflation zu drücken oder den Konsum anzutreiben.
Die USA haben mit ihrem Fracking-Boom maßgeblich zum Preisverfall beigetragen. Profitieren sie jetzt auch davon?
Stephan: Ja und nein. Niedrige Ölpreise sind positiv für die amerikanischen Verbraucher und damit für die Volkswirtschaft insgesamt, denn mehr als zwei Drittel des US-Bruttoinlandsproduktes beruhen auf dem privaten Konsum. Außerdem profitieren viele Firmen von sinkenden Energierechnungen. Es gibt in den USA aber auch Verlierer: Das sind vor allem die Unternehmen des Erdölsektors und indirekt ihre Zulieferer – immerhin rund 30 Prozent aller US-Investitionen haben mit der Energiewirtschaft zu tun. Unterm Strich sehe ich die USA aber auf der Gewinnerseite.
Ist billiges Öl auch ein guter Treibstoff für den Aktienmarkt?
Stephan: Ja. Es gibt die Befürchtung, dass der Ölpreiseinbruch ein Warnsignal für die Weltkonjunktur darstellen könnte. Ich halte das für überzogen, denn der Preisverfall geht nicht auf eine schwache Nachfrage zurück. Tatsächlich gibt billiges Öl den erdölimportierenden Ländern einen zusätzlichen Wachstumsschub, der 2015 auch die Aktienmärkte stützen sollte. Vorsicht ist dagegen geboten bei Aktien und Anleihen der Erdölexporteure – hier sollten Anleger sehr aufmerksam sein, um Kursverluste und mögliche Zahlungsausfälle zu vermeiden.