Politik

Alexander Niemetz: Testfall Ukraine

7 Min.

12.06.2014
KOMMENTAR. Es ist Hochzeit für politische Zyniker – selten in der jüngeren Geschichte sah sich die Welt mit so viel Zynismus konfrontiert, wie in den vergangenen Monaten im Fall Ukraine. Da wird auf dem Rücken eines Volkes Machtpolitik exekutiert, ganz so, als ob es kein Völkerrecht, keine moralisch verpflichtenden Wertvorstellungen oder doch wenigstens einen Funken politischen Anstand oder Charakter gebe. Dabei stehen nicht nur Putin und sein Russland am Pranger; auch der Westen, ob Amerika oder die EU, stehen im Focus; es geht um Macht-Interessen und Strategien, mediale Einschätz-ungen, politische Stimmungen; da werden die Ereignisse, da wird selbst die Geschichte zum Spielball zynischer Interpreten.

Klar ist, der Fall Ukraine markiert einen Wendepunkt für die europäische Sicherheitsarchitektur. Er wird zum Testfall, zur Nagelprobe für die Stabilität und Reife der ukrainischen Nation, zum Test für die Zukunftsfähigkeit und Glaubwürdigkeit Russlands, zum Härtetest für die europäische Solidarität und den europäischen Zusammenhalt, zum Stresstest für Strategie und Zukunfts-wert der NATO, aber auch zum Charaktertest für Deutschlands Führungskraft und Aussenpolitik.

Die Ukrainische Nation – es gibt sie nicht, sagt Putin. „Wir sind ein Volk, Kiew ist die Mutter aller russischen Städte.“ Das ist eine Umarmung, die der Ukraine quasi das Existenzrecht abspricht. Auch im Westen gibt es Politiker, die ähnlich denken. Die Annexion der Krim wird in Moskau als Wieder-vereinigung gefeiert. Völkerrecht hin, internationale Verträge her – russische Nation ist, wo russisch gesprochen wird. Da zählen selbst Staatsgrenzen nicht – die grossrussischen Provokationen in den ostukrainischen Städten Charkow und Donezk sprechen eine deutliche Sprache. Ein Staat, die Ukraine, wird systematisch zerstört. Das System ist immer gleich: Verunsicherung (die ukrainische Übergangsregierung wird als faschistisch gebrandmarkt), wirtschaftlicher Druck (die Gaspreise werden verdoppelt) und militärische Bedrohung (der Aufmarsch der russischen Armee an der Ostgrenze der Ukraine). Die Ukraine will, ja muss eine Antwort geben: Die für Mai angesetzten Präsidentschaftswahlen können ein Signal der nationalen Einigkeit über Sprachgrenzen hinaus geben. Sie geben der Machtzentrale in Kiew die unanfechtbare Legitimität, für alle Ukrainer zu sprechen. Die Wahlen können zum Bollwerk werden – gegen Einmischung von aussen. Die Wahlen werden so zum Test für die Stabilität der ukrainischen Nation.

Die Ukraine ist aber auch ein Test für die europäische Solidarität. Ist Europa bereit, die russische Expansion zu stoppen. Führt der Konflikt dazu, dass die EU endlich gemeinsame europäische Aussenpolitik definiert oder gestaltet jedes Land seine Beziehungen zu Moskau bilateral. Ohne Frage, dabei spielt Deutschland eine zentrale Rolle. Es ist schön, gemeinsam über Sanktionen zu reden und sie in einen Dreistufenplan zu giessen; aber ist man in Europa auch bereit, der Politik Vorrang vor der Wirtschaft zu geben – spürbare Sanktionen sind nicht zum Nulltarif zu haben – das gilt für die deutsche Energieversorgung, die deutschen Autoexporte, aber auch für den Finanzplatz London. Sanktionen verhindert nur, wer politisch glaubwürdig und belastbar ein schmerzhaftes Sanktionsszenario aufbaut; wer nicht ausschliesst, dass Sanktionen als Fortsetzung der Diplomatie mit andern Mitteln akzeptiert werden. Das heisst nicht, die Ukraine von Russland zu isolieren. Das tolpatschige Vorgehen der EU-Kommission in puncto Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ist keine gute Blaupause für das delikate Dreiecksverhältnis Europa-Ukraine-Russland.

Die europäischen Finanzierungsangebote (gemeinsam mit dem IWF) an die ukrainische Regierung, der Abbau von Zollschranken, all das sind gute Signale, können zur Stabilisierung der Ukraine beitragen; sie können aber nicht ein geschlossenes, diplomatisches Auftreten gegenüber Russland ersetzen.

Der Fall Ukraine, die Annexion der Krim, hat zu einem NATO-Revival geführt – das Militärbündnis auf Sinnsuche erwacht mit neuem Selbstbewusstsein. Vor allem die osteuropäischen NATO Mitglieder, die Grenzstaaten zu Russland, die Polen, die Esten, die Letten, die Litauer wünschen sich einen forcierten Auftritt ihrer starken Partner an ihren Grenzen: Truppenverstärkungen, Manöver, Air Policing. Sie haben Angst vor Russland, fürchten dessen Expansionsdrang; vor allem die baltischen Staaten haben starke russische Minderheiten. Sie müssen sich auf Bündnisgarantien verlassen können. Das heisst natürlich nicht, dass jetzt die Mitgliedschaft der Ukraine auf die Tagesordnung muss. Aber mit dem Abschreckungspotential des Bündnisses an der Seite kann sich die Ukraine selbstbewusster daran machen seine Probleme mit Russland langfristig zu lösen.

Das fremdverursachte Nato-Revival muss aber dazu führen, dass die NATO sich endlich über seine strategische Ausrichtung und vor allem über die effektive Finanzierung (Steigerung) der Militärhaushalte seiner Mitglieder besinnen muss. Die Sicherheitsarchitektur Europas ist von Russland nachhaltig erschüttert worden. Das verlangt nach einer starken politischen Antwort. Die Nato in ihrem heutigen Zustand ist davon weit entfernt.

Deutschland im Ukraine-Test: Ja, es kam schneller zum Schwur als wohl erwartet. Bundespräsident Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz: „Deutschland muss bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihm über Jahrzehnte von andern gewährt wurde.“ Das war der Appell, mehr Verantwortung zu übernehmen. Und Verteidigungsministerin von der Leyen doppelte nach.

Gewiss, bei Bundeskanzlerin Merkel laufen derzeit viele Fäden zusammen, die mit der Ukraine-Krise zu tun haben. Sie hielt den Gesprächskanal zu Russlands Putin immer offen. Sie fand auch für ihre Verhältnisse starke und deutliche Worte an die Adresse Moskaus. Aber Worte sind noch keine Taten. Polens Ministerpräsident Tusk mahnt, die deutsch-russischen Beziehungen dürfen nicht wichtiger sein, als die gemeinsamen europäischen Interessen und: „Europa ist sicherer, wenn Deutschland mehr auf gemeinschaftliche Interessen setzt als auf bilaterale Beziehungen.“ Er fordert deutsche Führung ein, während mancher verantwortliche Politiker, mancher Topmanager und vor allem die deutschen Wähler gerne den Traum von der Äquidistanz von der Neutralität träumen. Klar ist, die Partner, vor allem im Osten, erwarten mehr deutsches Engagement nicht nur im Bereich Diplomatie. So wird die Ukraine zum aussenpolitischen Charaktertest für Deutschland.

Bei allem Hurra-Patriotismus, der nach der Annexion der Krim, in Russland herrscht, die Rechnung wird später präsentiert. Putin hat seine Glaubwürdig-keit komplett verspielt, wer wollte ihm noch vertrauen. Verträge, Unterschriften, Garantien alles Makulatur. Dabei schrieb Putin noch vor kurzem in der New York Times: „Recht bleibt das Recht, ihm müssen wir folgen, ob wir es nun mögen oder nicht.“ Es ist viel über die Motive des russischen Präsidenten spekuliert worden (vor allem die sogenannten „Russlandversteher“ verzeihen fast alles) – klar ist aber doch: Entscheidend sind nicht die Motive, sondern die Taten – die Verletzung territorialer Integrität ist Völkerrechtsbruch. Russland riskiert viel: Politische Isolierung (Rausschmiss aus G8, so symbolisch das sein mag), Misstrauen bei den eigenen Partnern, mit denen es seine Zollunion formen will (Kasachstan, Weissrussland), Aufkündigung der Sicherheitspartnerschaft mit der NATO, Wirtschaftliche Konsequenzen (obwohl noch keine schwerwiegenden Sanktionen beschlossen sind).

Russland ist abhängig, auch wenn Putin das ignorieren mag. Die russische Wirtschaft braucht Investitionen, sie braucht die Modernisierungs-partnerschaft, sie braucht Kooperation in Sachen Technologie. Ohne dies bleibt Russland zwar ein Rohstoffgigant, bleibt aber nicht zukunftsfähig.

Die internationalen Investoren wenden sich von Russland ab. 70 Milliarden Euro flossen aus Russland ab, der Rubel taumelt, die Inflation steigt. Die Wachstumsprognosen für den Energieriesen gehen von einer Halbierung der Rate aus, einen Absturz in die Rezession nicht ausgeschlossen. Die Rechnung wird das Volk bezahlen und die russische Wirtschaft. 4,5 Prozent des ukrainischen Territoriums (die Krim) können darüber hinaus auch den Traum von der „Eurasischen Union“ (unter Einschluss der Ukraine) zerstören. Partner mögen keine Politik der eisernen Faust. Mehr noch: Die Versprechen an die Russen auf der Krim kosten Milliarden, Gehälter, Renten, Sozialleistungen, Infrastruktur.

Russland hat hoch gepokert und zahlt einen hohen Preis.

Alexander Niemetz April 2014

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